Es gibt Menschen, die müssen jedes Jahr den Berlin-Marathon laufen, andere schmeißen pünktlich am 1. Mai in Kreuzberg Schaufensterscheiben ein. Eberhard Trempel muss unbedingt regelmäßig bei der Vogalonga mitrudern, möglichst jedes Jahr einmal. Fehlen nur noch die Mitstreiter. Kein Problem, bei der RU Arkona gibt es genug Getriebene, die dem Wahnsinn gerne mal die Hand reichen.
Da aus der Erfahrung von 2019, als das eine oder andere Ruderboot versenkt wurde, gelernt wird, muss eine Barke her. Das wird organisiert, und Albert und Reiner Ohm sind so hilfsbereit wie naiv, das Gerät mit Eberhard über die Alpen bringen zu wollen, was mit tiefen Kerben in der Seele letztlich gelingt. Der kleine Anhängerschaden, der auf den letzten Kilometern auf dem Lido verursacht wird, wird aus der gut gefüllten Portokasse der Reisenden beglichen (oder zahlt doch eine Versicherung?).
Mittwochnacht treffen zuerst die fünf Fliegenden ein, die sich eine Wassertaxe zum Hotel leisten. Schnell und teuer, aber man gönnt sich ja sonst nur wenig.
Die drei Transportarbeiter erreichen im Laufe des Donnerstag mit Müh und Not das Hotel und
am Donnerstagabend schließlich treffen auch die letzten Reisenden, natürlich die Bummelbahn-Fahrer (bei Hin- und Rückfahrt jeweils auf die Minute pünktlich!!) Karel und Klaus auf dem Lido ein und begeben sich umgehend ins Restaurant, wo die restliche Mannschaft schon einen unaufholbaren Vorsprung beim Konsum leichter bis mittelschwerer alkoholischer Getränke hat.
Am Freitag soll nach dem für italienische Verhältnisse opulenten Frühstück die Barke probeweise zu Wasser gelassen werden. Aus unklar bleibenden Gründen verschieben wir die Probefahrt auf 16 Uhr, um die klimaveränderte Hitze auch richtig auszunutzen. Da sich spontan eine lange Pause ohne Programm ergeben hat, wird für den Abend eingekauft und man vertreibt sich nach dieser Anstrengung die Zeit mit dem Blick aufs Wasser (immerhin Venedig im Hintergrund), man macht eine Radtour auf dem Lido, nimmt eventuell einen Happen zu sich, trinkt vielleicht schon einen Aperol Spritz (nie mehr als 3,50 € ausgeben!) oder probiert die Klimaanlage im Hotel aus (funktioniert wunderbarer Weise).
Als die Gruppe diszipliniert um kurz vor 16 Uhr am Ruderverein mit dem wunderschönen Namen „Canottieri Diadora“ankommt, ist alles verwaist und unter der Hand werden Wetten angenommen, mit wie vielen Stunden Verspätung wohl der Ruderchef nach seiner ausgiebigen Siesta zu erscheinen gedenkt. Als um Punkt 16 Uhr die Rollläden von innen geöffnet werden und der Meister des Krans lächelnd erscheint, sind wir baff. Wahrscheinlich heißt er im Volksmund „Il tedesco – der deutsche“! Es gibt schlimmeres. Nach dem perfekten Zu-Wasser-lassen mithilfe des für Venedig typischen Krans,

machen wir eine 10-km-Probefahrt, die ausgesprochen problemlos verläuft. Immerhin haben fünf Mitrudernde noch nie in einem Riemenboot gesessen. Bei der Fahrt durch die Lagune müssen wir nur auf die Reusen aufpassen. Wir fahren zum San-Giorgo-Canal (zwischen den Inseln Guidecca und San Giorgo), der nur wenige hundert Meter vor dem übermorgigen Startplatz entfernt liegt.

Der Sonnabend vor dem großen Event gehört dem Müßiggang. Mit mittelgroßer Gruppe durch Venedig streifen und sowohl Hochkultur (Frari-Kirche, Gesuiti-Kirche) als auch Esskultur genießend oder am Strand bleibend: Jeder verbringt den Tag auf seine individuelle Art. Zum Abendessen wird gemeinsam die Strandbar „El Murazzi“ aufgesucht, um für den morgigen Tag den Kohlenhydratspeicher aufzufüllen und möglichst viel Pasta zu essen. Das gelingt ganz gut. Spät am Abend erscheint auch Sergej für seinen Kurztrip, um bei der morgigen Veranstaltung dabei zu sein.
Frühstück gibt es im Hotel eigentlich zu italienisch angemessener Zeit zwischen 8 und 10 Uhr. Da wir aber gegen 8.30 Uhr am Startplatz sein wollen, d.h., gegen 7.45 Uhr losrudern müssen und vorher im Gerangel mit dutzenden anderen Booten unsere Barke ins Wasser hieven lassen wollen, müssen wir um 7.15 Uhr am Hotel abmarschieren, demnach um 6.45 Uhr (allerspätestens) ein gehetztes Frühstück einnehmen. Die Küche musste zwar nach längeren Verhandlungen ihren 8‑Uhr-Termin aufgeben, ist allerdings erst kurz nach sieben auf Betriebstemperatur. Kürzestfrühstück ist angesagt. Wer jetzt trotzdem noch drei Tassen Kaffee herunterstürzen muss, wird es später im Boot bereuen!
Alles andere klappt perfekt. Trotz gewisser Anfangshektik, die nach den ersten Ruderschlägen einer hoffnungsfrohen Stimmung weicht, sind wir wie geplant am Startplatz. Da der VL nicht davon abzubringen ist, im Auge des Tornados zu warten, haben wir schon mal dreißig Minuten Stress, um die Barke trotz des Windes und der ständig zunehmenden Zahl von Booten, die sich dazwischen drängeln, ungefähr auf der Stelle zu halten. Ein Anker wäre ganz gut. Ohne Kanonenschuss, der den Verantwortlichen zu Kriegszeiten wohl nicht angemessen erscheint, geht es relativ pünktlich um 9 Uhr auf die Reise. Die Route verläuft wie gewöhnlich an Sant‚ Erasmo vorbei nach Burano, dann durch Murano zum Canale Cannareggio und weiter den Canal Grande entlang bis zur Santa Maria della Salute. Insgesamt 30 km.

Die Steuerleute, also meist Eberhard und Albert, haben allerlei zu tun, um sich gegen vorwitzige Kanuten oder sogar Stand-up-Paddler, die mit uns mithalten wollen, zur Wehr zu setzen. Man hält ja gerne mal sein Kajak mitten in der Fahrrinne an, um ein ganz besonders aufregendes Foto zu machen. Und da wir den kleinen Paddler nicht unterpflügen wollen, sind ständige Manöver nötig, die auf dem ersten Drittel der Strecke keinen rechten „Flow“ aufkommen lassen. Auch wenn man sich klammheimlich einen Zusammenstoß wie auf dem Autoscooter vorstellen kann, vergessen wir unsere gute Kinderstube nicht und versuchen faire Sportsleute zu sein. Nur zweimal testen Paddler, ob ihr Kopf härter als ein Riemen ist.

Das Glück ist auf unserer Seite, vier von den insgesamt sechs Stunden Ruderzeit ist es zwar warm aber doch bedeckt, so dass nicht die allerletzten Reste Flüssigkeit aus den Poren gezogen werden. Mit Wasser sind wir auch gut versorgt, am Proviant hat der eine oder andere leider gespart.
Um das übliche Chaos, wenn sich alle Boote im Canale Cannareggio an der Ponte Guglie hoffnungslos ineinander verkeilen und von Tauchern einzeln entknotet werden müssen, zu mildern, gibt es ein strenges Regime der Einfahrt in den Canale. Wasserschutzpolizei stoppt die Boote und gibt sie schubweise frei, was aber einen Kleinstau auch nicht verhindert. Wäre auch schade gewesen.

Höhepunkt ist natürlich die Fahrt durch den majestätischen Canal Grande (ohne e) mit vielen aufmunternden Zurufen der zahlreichen Zuschauer, die unsere Berliner Flagge und den Rückenaufdruck auf unseren Shirts erkennen. Nur die Zuordnung zum Bundesland Hessen, (wegen des Schiffsnamens) müssen wir uns leider lautstark (Berliner Schnauze) verbitten. Nächstes Mal einfach übertünchen!
Die Fahrt vom Zielpunkt bis zur schiffsfreien Lagune meistert die Barke trotz hoher Wellen ohne einen Tropfen Wasser zu nehmen.
Das abendliche Menü im „Bagno Marconi“ war qualitativ hochwertig und quantitativ selbst für ausgehungerte Ruderermägen nicht bezwingbar. Ein schöner Abschluss, auch wenn sich bei zwei Mitrudernden erste Krankheitsmerkmale melden.
Am Pfingstmontag geht es auf den verschiedensten Wegen zurück in die kalte Heimat. Nur der Verfasser dieser Zeilen nimmt sich die Zeit, noch einen ganzen Tag durch Venedig und die Guidecca zu bummeln. Genießen will eben gelernt sein!
Klaus Becker