Dienstag 4.6. bis Donnerstag, 6.6.
Alle Wege führen bekanntlich nach Rom. Wir fahren zwar nur nach Venedig, aber so groß sollten die Unterschiede in der Anreise nicht sein. Hauptsache Italien, wie ein bekannter deutscher Philosoph zu sagen pflegte. Sechs Arkonen machen die Vorhut, um mit den drei Vierern Rhein, Havel und Willi Kantel und einem Ersatzzweier über die Alpen zu schaukeln, sechs kluge Ruderer nehmen das schnelle Flugzeug und zwei Ewiggestrige versuchen auf getrennten Routen den Ort der Sehnsucht mit der Bahn zu erreichen, was gut bis mittelmäßig gelingt (6.10 Uhr, Berlin Hauptbahnhof: “Zug nach München fällt aus!“). Burkhard kann berufliche Zwänge geltend machen: Später kommen, früher gehen und zwischendurch kurz Obmann bei der Vogalonga sein: So machen es die Profis.
Freitag, 7.6.
Zu italienisch angemessener Frühstückszeit um 8.30 Uhr versammeln sich alle 14 anwesenden Ruderkameraden bei schönstem Wetter entspannt bei Brötchen, Tee, Kaffee, Obst und üblichen Aufschnittvariationen. Eigentlich will man diese Sitzung über den ganzen Tag ausdehnen, aber die Boote rufen leise und wollen ihrer Bestimmung zugeführt werden. Bei einer kleinen Einführungstour werden wir die salzigen Lagunengewässer auf ihre Tragfähigkeit testen. Vom Campingplatz Miramare auf der Halbinsel, die die Lagune im Nordosten einfasst kurz vor dem Punta Sabbioni fährt unser Bus im Pendelverkehr (den wir ja aus Berlins Berufsverkehr kennen und lieben) zum Liegeplatz der Boote, wo uns die Canottieri Treporti freundlich aufgenommen haben. Gegen 11 Uhr stechen wir in See, machen eine kleine Runde durch enge Kanäle, an deren Ufer Wohnhäuser für ganz normale Menschen stehen, verwilderte Grundstücke und etwas verranzte Kleinindustrieanlagen. Sehr authentisch das Ganze, wir kommen uns schon fast wie Einheimische vor und hegen eine gewisse Verachtung für die ordinären Touristen, die sich vom Markusplatz zur Rialtobrücke wälzen.
Nach der Kanalrunde fahren wir über die Lagune zur Insel Sant‘Erasmo, wo wir endlich die erste Strandbar anpeilen.
Wir sehen in der Ferne die Kirchtürme von Torcelli und Burano, müssen uns aber auf die Sandbänke und Untiefen konzentrieren. Eigentlich könnte man den größten Teil der Strecke laufen, da das Wasser nur zwischen 30 und 60 cm tief und gar nicht so schmutzig ist, wie Commissario Brunetti immer unkt. Die Bar zeigt, dass auch im angeblich immer so teuren Venedig, bzw. in dessen Nähe, ein Aperol Spritz für 2,50 Euro zu haben ist. Mitgebrachte Brötchen können verzehrt werden, wie im Berlin der vorigen Jahrhundertwende. Die Rückfahrt zum Liegeplatz wird doch wegen des aufkommenden Windes (am Strand vor der Bar muss eine Sonnenanbeterin mehrmals ihren wegfliegenden Sonnenschirm einfangen) und der Motorboote eine recht wackelige Angelegenheit. Ca. 18–20 km reichen fürs Erste, um Hunger für den Restaurantbesuch oder die zu kochende Gemüsepfanne zu bekommen. Abends sitzt dann die ganze Gesellschaft bei verschiedenartigen Getränken vor den Wohncontainern und philosophiert unter anderem darüber, warum man trotz der nicht vorhandenen Mücken sich schon durchdringend mit Autan einnebeln oder feste Kleidung anhaben muss, um nicht völlig zerstochen zu werden. Der Protokollant sieht später nur eine Fledermaus ihr Futterparadies durchpflügen. Der Ultraschall kann getrost ausgeknipst werden. Offener Mund genügt um satt zu werden. Ist das mit Insektensterben gemeint?
Sonnabend, 8.6.
Heute wird nicht gerudert. Da morgen vormittags angeblich ein Motorboot-Fahrverbot in Kraft tritt, zeigt heute jeder kleine und große Flitzer, wie man Wellen erzeugt. Aber wir wollen ja sowieso auf Tourismus machen. Einige fahren nach Burano und Torcelli, andere bereichern sich kulturell und sehen sich die zeitgenössische Kunst der Biennale im Arsenale oder den Giardini an. Ob es auch Faulenzer gibt, die gar nichts machen? Da das Wetter wie immer perfekt ist, wird abends gegrillt, obwohl eine Kohlenhydratspeicher-Auffüllung in Form von Pasta als Vorbereitung auf die morgige Tour vielleicht sogar sinnvoller wäre. Aber ein Birra Moretti hat ja auch 240 kcal in Form von Kohlenhydraten und somit werden die meisten die Vogalonga gut gerüstet überstehen. Mücken gibt es zum Glück gar keine, das ständige Klatschen auf Beine, Hals und Arme der Kameraden muss wohl andere Gründe haben.
Sonntag, 9.6.
Fahrtenleiter Achim hat mit großem Zeitpuffer kalkuliert: Wenn der Startschuss auf San Marco um 9 Uhr ertönt und wir vielleicht wegen der Strömung (Ebbe) länger brauchen, müssten wir um 7 Uhr losrudern, ergo um 6.15 Uhr am Liegplatz sein (weil Unklarheit über den Andrang der vielen Boote besteht), demnach um 6 Uhr aufbrechen und also schlussendlich um 5 Uhr aufstehen. Reinstes Urlaubsvergnügen, aber wir sind ja nicht zum Spaß hier. Natürlich geht alles viel schneller als geplant, so dass wir um 8.15 Uhr in der Nähe des Startplatzes ankommen, wo wir 45 Minuten auf den Kanonenschlag warten, während wir die am Vorabend geschmierten Frühstücksbrote essen. Kaffeeservice mangelhaft.
Ein Kreuzfahrtriese wird in 20 m Entfernung an unseren Booten vorbeigezogen. Um dessen oberste Stockwerke zu sehen, muss man sich ganz schön verrenken, weil er höher als die höchsten Häuser Venedigs ist. Freundlich winkende Kreuzfahrturlauber werden mit Buuuuhs und gesenktem Daumen begrüßt. Ob sie wissen, warum?
Direkt nach dem Startschuss geht die Post ab. Ein Rennachter möchte zum Vormittagsespresso wieder am Ziel sein und fliegt an uns vorbei. Drachenboote, unendlich viele Kajaks, Tretboote, Fahrräder auf Wasserkufen und natürlich Gondeln in allen Variationen werden überholt oder überholen uns. Geschäfte können auf Sandbänken oder mit Hilfe von Gerhards „Long John“-Nottoilette verrichtet werden.
An der Gemüseinsel Sant‘Erasmo vorbei fahren wir nach Burano, dann durch Muranos Hauptkanal hindurch Richtung Venedig. Außer an einigen Engstellen kann wider Erwarten recht zügig gerudert werden.
An der Insel Sant’Erasmo vorbei
Wir sind viel früher als gedacht, gegen 12.30 Uhr vor der Einfahrt in den Rio di Cannaregio, wo nach dem Prinzip gekämpft wird: Wie verbaue ich mir durch Blödheit und Drängelei jegliches Vorwärtskommen.
Der Stau an der „Brücke des Grauens“ ist allumfassend und treibt den normalen Wassersportler in kürzester Zeit in den Wahnsinn. Taucher versuchen mit gewissem Erfolg die in sich verkeilten und von hinten gnadenlos nachdrängenden Boote zu entwirren und durch den Engpass zu schleusen. Heide auf Platz 1 in unserem Boot handelt rustikal und nimmt das Recht des Stärkeren, das hier als einziges gilt, offensiv wahr. Wenn sich wie von Wunderhand 10 cm Platz ergeben, treibt sie das Boot 20 cm vorwärts. Manchmal löst sich der Knoten und wir können 3 bis 5 halbe Schläge machen, bis zwei Drachenboote die Physik negieren und vergessen, dass da, wo ein Körper ist, kein zweiter sein kann. Mitnichten. Über im Wasser liegende Skulls kann man schließlich einfach darüberfahren, wenn irgend möglich sogar mit gar fröhlichem Gesang.
Endlich der Canal Grande, der geradezu paradiesische, autobahnähnliche Rudermöglichkeiten bietet. Ein kleiner, zu vernachlässigender Stau noch an der Rialto-Brücke wird ohne größere Verletzungen an Leib und Material überwunden. Zügig geht es zum Ziel nach San Marco, obwohl man eigentlich ewig durch dieses Weltkulturerbe rudern wollte. Zurückfahrende Boote produzieren die eine oder andere geisterfahrerähnliche Situation.
Leider sind wir jetzt, gegen halb zwei, noch nicht am Ziel, sondern müssen nach Punta Sabbioni ca. 10 km zurückrudern. Was man so rudern nennt! Wenn man die Kreuzwellen in Venedigs Gewässern kennt, weiß man, dass bei „normalem“ (also irrsinnigem) Motorbootverkehr durch Vaporetti, Wassertaxis und „Sport“-Booten ab 200 PS rudern nicht möglich ist. Wir halten uns am Ufer und kommen doch irgendwie langsam voran. Die anderen beiden Boote haben wir längst aus den Augen verloren. Später ergibt sich folgendes Szenario: Die Havel erreicht das Ziel mit Müh‚ und Not, zweimal Schöpfen mit Aussteigen auf glücklicherweise vorhandenen Sandbänken eingeschlossen. Der Rhein wird von drei nacheinander einschlagenden Wellen versenkt. Ein Kölner Kirchboot nimmt alles, was an Rollsitzen, Rudersäcken und sonstigem Material auf dem Wasser treibt, sowie die Skulls, an Bord. Ein Vaporetto in Leerfahrt wirft Rettungsringe ins Wasser und holt die schwimmende Mannschaft über eine Notleiter ins Schiff. Der Rhein wird von den rührenden Kölnern in einen nahen Hafen abgeschleppt, entwässert und gegen Widerstände von Hafenpersonal und Polizei ins Schlepptau genommen und vor dem angedrohten Verschrotten gerettet. Die Willi Kantel ist im Hafen dabei und hilft beim Entführen des Rheins und kommt, nach dreimaligem Ausschöpfen, auch zum Liegeplatz gerudert. Die Organisation der Rettungskräfte bei der Vogalonga, die praktisch nicht vorhanden ist, hat insofern durchaus noch Luft nach oben. Fazit: Einiger nasser Elektroschrott, aber keine ernsthaften Personenschäden, also: Ende gutt – alles gutt.
Die Kölner erzählen bei der am Abend spendierten Aperol-Spritz-Runde, dass in ihrem Verein die Teilnahme an der Vogalonga mit normalen Ruderbooten (also Kirchboote und Barken ausgenommen) nicht mehr gestattet sei. Vielleicht ein Vorbild für die Ruder Union Arkona? Der Abend klingt im Garten der namenlosen Pizzeria bei gutem italienischem Essen und ebensolchen Getränken nach dem ereignisreichen Tag entspannt aus.
Montag, 10.6.
Ruderfreier Tag. Alle Ruderfreunde zerstreuen sich in Kleingruppen und mischen sich unters gemeine Touristenvolk. Schlendern durch Canareggio, Führung durch das armenische Kloster auf der Insel Lazzaro, Baden im Meer, Ausflug nach Burano und Murano, faulenzen, körperliche und seelische Wunden kurieren sind einige der Unternehmungen. Außer Rasenmähen sozusagen alles, was Spaß macht. Abends sitzen alle nicht nur bei Wasser und Brot im Freien und sehen den eigentlich nicht vorhandenen Mücken beim Blutsaugen zu. Burkhard wird verabschiedet, weil er sich morgen früh schon um 4 Uhr auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle, die angeblich außerhalb Venedigs liegen soll, machen will (muss). Alle anderen werden sich dann noch in Schlafes Hand befinden und auf ein Stündchen oder zwei auf die andere Seite drehen…
Dienstag, 11.6.
Am letzten Tag vor der Heimreise tritt endlich die 7–8‑9-Regel in Kraft. Wir wollen die Lagunengewässer mal fragen, ob sie immer so böse sein müssen wie am Sonntag. Also wird locker nach Burano und ein paar Kilometer weiter in die von unendlich vielen Kanälen durchzogene Lagunenlandschaft gerudert. Obwohl es hier ja bekanntermaßen eigentlich keine Mücken gibt, hat Commissario Brunetti angeblich eine Spezialpaste dagegen, dessen Rezept Donna Leon im letzten Krimi allerdings nicht verrät. Nachdem wir bei Ebbe im 20 cm tiefen Wasser mehrfach Schlickberührung haben, drehen wir um und erkunden auch nicht den engen Kanal nördlich von Burano. Wir rudern auf dem Hinweg, wenige Vaporetti und Motorboote großzügig passieren lassend, zum Liegeplatz zurück. Nach einem Picknick im Schatten wird abgeriggert, Verpackungskünstler Michael verstaut jedes Einzelteil wie in einem großen Puzzle am richtigen Platz, so dass die alte Weisheit: „Liegt im Hänger“ wieder zu 100 % Gültigkeit hat. Abends versammelt sich die ganze Gruppe in der Pizzeria ohne Namen an der W. Goethe-Staße. Dass selbst Ruderer aus Fehlern lernen können, zeigt sich an der Bestellung von halben Pizzen, da die ganze nicht mit der Menschenrechtscharta vereinbar ist. Abends auf dem Campingplatz, wo die eigentlich nicht vorhandenen Mücken mit allen chemischen und mechanischen Möglichkeiten bekämpft werden (nicht wenige überdenken ihre bisherige Haltung zum Glyphosatverbot), wird Fahrtenleiter Achim sinnvoller Weise ein kleines Bild mit einer venezianischen Unterwasser-Gondel überreicht.
Mittwoch, 12.6.
Nach kurzem Frühstück wird der Campingplatz Miramare in verschiedenen Gruppen verlassen um mit Bahn, Flugzeug und Auto ins gewitterliche Berlin zurückzureisen.
Eigentlich endet hier der Bericht mit dem Dank an Achim und Gundi für die umfangreiche Organisationsarbeit, bei der an so vieles gedacht werden muss, besonders die ausreichende Zahl an Skulls und Ersatzskulls. Dank ebenso an Michael, Inge, Manuela und Gisela für die Bootsüberführungen, an Claudia für das Entwerfen unseres Vogalonga-T-Shirts und alle, die so fleißig eingekauft, Ordnung geschaffen und gekocht haben.
Der Bericht wäre aber unvollständig, ohne auf eine interessante Besonderheit beim Rückflug einzugehen. Ein kurzer kommentarloser Auszug aus dem Threema-Chat:
18.55: Flug gecancelled
18.59: Mist…warum? Und nu?
20.13: Was gibt es von unseren Fliegern?
21.16: Wir wissen noch nicht, wie es weiter geht. Anscheinend gibt es in Venedig keine Übernachtungsmöglichkeiten mehr…
23.26: Wir sitzen noch am Flughafen, aber es soll noch einige Betten geben.
00.42: So, sind in einem Hotel…
07.26: Um 12.30 Uhr nach Brüssel, dann nach Frankfurt und dann müssen wir uns einen Zug nach Berlin nehmen…
15.53: Gerade verspätet in Brüssel gelandet. Der Anschlussflug ist weg…
17.25: Inzwischen bei 19.30 Abflug.
19.15: Wir sitzen im Flieger!!!
Klaus Becker