Donnerstag, 26.7.
„Tagesausklang im Biergarten“ sieht der Ablaufplan, der von uns natürlich penibel eingehalten wird, für 20:30 Uhr vor. Zuerst ist aber noch der Tagesordnungspunkt „ca. 19 Uhr: Gemeinsames Abendessen im Res- taurant“ zu erfüllen. Das sieht harmlos aus, wenn man das „ca.“ nicht berücksichtigt, das natürlich nicht zufällig dort steht und erfahrene Wanderruderer schon vorher ins Grübeln bringt, da sie solche Ungenauigkeiten in Bernd Stoeckels Plänen nicht kennen. Eine Umleitung auf dem Weg zum Ferienpark, die eine unkalkulierbare Verlängerung des Weges mit sich bringt, steht einer präziseren Zeitkalkulation und der direkten Anfahrt im Wege: Die Deutsche Bahn hat sich die schier unlösbare Aufgabe gestellt, den etwa zehn Meter breiten Bahnübergang, der gleich zu Beginn der Zufahrtsstraße Gut und Böse voneinander trennt, nach geschätzten 80 Betriebsjahren zu sanieren. Wie eine Besichtigung der Großbaustelle ergibt, könnte man die 20 cm breiten Schotterstreifen, an denen seit Monaten fieberhaft gearbeitet wird, auch mit dem PKW überqueren. Damit dies nicht geschieht, wird die Absperrung, die natürlich jeder geistig gesunde Mensch nach Feierabend beiseite räumen würde, mit massiven Betonteilen gesichert, die vermutlich aus ehemaligen Grenzbefestigungsanlagen stammen. Macht nichts: Die Spritpreise spielen bei Anhängern von so elitären Sportarten wie Rudern ja keine Rolle und während des 25 km kurzen Umwegs lernt man außerdem Land und Leute besser kennen als auf hoher See in den kommenden Tagen.
Als die Uhr drei vor Sieben anzeigt und ein Passat mit Leipziger Kennzeichen vor unserem Wagen mit 80 über die Nebenstraße schleicht, wird Albert trotzdem nervös, löst das Problem aber ohne Wa engewalt mit einem eleganten Überholvorgang. Während wir drei Mitfahrer derweil über die Gültigkeit unserer Organspendeausweise diskutieren und unsere Gedanken mit Entspannungsübungen auf die ersten Kaltge- tränke zu lenken versuchen, erreichen wir „ca.“ um 19:10 Uhr das Gelände und werden nicht ausgeschimpft. Glück gehabt!
Die übrigen sechs Mitstreiter unserer kleinen Truppe sind schon da, sodass wir uns alsbald bei schönstem Wetter im Biergarten zum Essen niederlassen können. Schollen let geht nach entsprechenden Erfahrungen bei der letzten Fahrt gar nicht. Nachdem zeitgleich mit dem Kartoffelpuffer auch die Mücken kommen, ziehen wir uns in den Gemeinschaftsraum zurück, den der Letzte noch vor Mitternacht verlässt, obwohl Rot- und Weißweinvorräte noch nicht vollständig zur Neige gegangen sind.
Freitag, 27.7.
Angesagt sind seit einer Woche 32 Grad und dementsprechend Sonne satt. Trotzdem kommt es genau so. Ist das schönes Wetter, wenn man 34 km rudern will? Wir nehmen es sowieso, wie es kommt, zumal die Strafe der Wettergötter stets folgt, wenn man gerade nicht mehr an sie glaubt.
Um Punkt 8 Uhr sitzen alle am Frühstückstisch und die Kaffeetrinker sind gegenüber den Teetrinkern nur noch knapp mit 6:4 in der Mehrheit. Dieser wichtige Wettbewerb spielt im Folgenden überhaupt keine Rolle mehr, weshalb er hier ausdrücklich erwähnt werden soll!
Um 9 Uhr 45 stechen wir bei ordentlicher Hitze in See: ein Vierer mit, ein Dreier mit und, für die ersten Kilometer, der ungesteuerte Zweier mit Dagmar und ihrer früheren Ruderkameradin. Wir schweben über den Wangnitzsee, die Havel und die Obere Havel Wasserstraße zur Schleuse Wesenberg, d. h. wir arbeiten den Plan vom Sonnabend ab. Man sieht schon jetzt: Wir sind exibel. An der Schleuse wird ein Phänomen immer stärker sichtbar, das uns schon die gesamte Strecke über aufgefallen war: Die Zahl der Paddler steht in diesem Jahr in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrer eigentlichen sportlichen Bedeutung, das heißt: wir befinden uns als einzige Ruderer weit und breit in „verseuchtem“ Gebiet, denn die Paddlermassen greifen oft in voller Breitseite an. Das Beste, was man von den Sportfreunden Kanuten sagen kann, ist, dass ihr Sportgerät recht wenig Platz benötigt, also von uns sehr schnell mit „freundlichen“ Rufen an den Rand gedrängt werden kann. Die größere Reichweite unserer natürlichen Waffen, den Skulls, gegenüber den lächerlichen Paddeln, müssen wir glücklicherweise nur selten einsetzen. Wir fahren nach schneller Schleusung über den Woblitzsee und weiter über die sich (besonders für die Steuerleute) sehr schön durchs Land windende Havel bis zum Großen Labussee, an dessen Einfahrt eine kleine Landzunge zum Mittagspicknick einlädt.
Als wir ankommen und das Essen im kostenlos dargereichten Schatten vorbereiten, sind wir die einzigen Gäste. Offensichtlich sind Ruderboote aber so anziehend, dass nachfolgend ständig Paddler anlegen und uns zwar nicht stören, aber eine gewisse Enge auf dem Landzipfel produzieren. Wir stärken uns mit Brot, Käse, Wurst und Gemüse, denn leerer Bauch rudert bekanntlich nicht gerne. Nach einer guten Stunde dösen, schwimmen oder Nichtstun machen wir uns auf den Rückweg und obwohl die Sonne nicht mehr ganz so hoch steht, brutzelt sie noch so, wie es sich für einen Julitag gehört. Die Steuerleute haben gewechselt, finden trotzdem den Weg und müssen die Ruderer so oft mit Wasser versorgen, dass sich ein Engpass an der Wasserfront auftut, obwohl wir morgens nach Vorschrift gebunkert hatten. Aber die Hitze lässt mehr Flüssigkeit in der Atmosphäre verdunsten, als wir vermuten konnten (dass dieses verdunstete Wasser demnächst in Form von Starkregen auf uns niederprasseln sollte, ahnen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht). Erstaunlicherweise ist bis 17 Uhr nach wiederum schneller Schleusung doch niemand verdurstet und die Boote erreichen fast zeitgleich nach soliden 34 strömungsfreien Kilometern den Steg.
Bis zum Abendessen ist Zeit fürs Duschen, für Schönheitsschlaf oder das von Heike, Albert, Vera und Ingo zelebrierte Synchronschwimmen. Für Rio 2016 sind dies die ersten erfolgversprechenden Trainingseinheiten. Thomas findet für einen kleinen Schlag mit dem Zweier leider keinen Partner.
Albert holt Claudia aus Fürstenberg ab, indem nicht der lange Umweg sondern ein langer Querfeldein-Waldweg genommen wird. Immerhin sehen die beiden dabei Reh, Hase, Specht und die ersten Blaubeeren, was Rückschlüsse auf die Qualität der Strecke und der Augen zulässt.
Das Abendessen endet wieder auf der Terrasse mit Seeblick bei bestem Wetter statt. Nomen ist nicht immer Omen: Das Bauernfrühstück geht am besten, zwei Mutige bestellen trotz oder wegen der ausdrücklichen Warnungen (was die Größe des Fisches betrifft) die Scholle. Diese Risikobereitschaft führt in einem Fall zum Nachordern von „Pommes Schranke“, im anderen zu nächtlichen Hungerattacken.
Als Sportler sehen wir uns natürlich die Olympia-Eröffnungsfeier an. Bei der ausführlichen Darstellung des tollen britischen Gesundheitswesens (da hat man auch schon ganz anderes gehört) verlassen die Ersten leicht verwirrt das Fernsehzimmer. Der Protokollant will noch den Einmarsch der Nationen sehen, gibt aber auf, nachdem die Sportler schon zwanzig Minuten ins Stadion strömen und immer noch beim Buchstaben „B“ (Bulgarien) sind. „G“ für Germany würde wohl erst im Morgengrauen erreicht werden …
Sonnabend, 28.7.
Nachts gibt es erste Gewitter und Regen, gegen Morgen klart es aber entgegen dem Gesetz der Serie auf. Da ab Mittag wieder Blitz und Donner angesagt sind, wollen wir etwas eher losrudern und erscheinen in Ruderkleidung zum Frühstück. Tatsächlich stechen wir einige Minuten früher als geplant (!) in See, verzichten aber weise darauf, eine Schleuse in den Fahrtenplan einzubauen, denn wenn das Gewitter trotz der Vorhersage kommen sollte, wollen wir den Rückweg nicht versperrt sehen. Wir fahren über den Wangnitzsee (damit geht‚s ja immer los) über Großen Priepertsee, Ellbogensee, Ziernsee zur Schleuse Steinhavelmühle, wo wir ein gut gelungenes Wendemanöver durchführen. Etwa zwei Kilometer zurückgerudert, besetzen wir einen wunderbaren Rastplatz, sehen aber dank moderner Technik auf dem Mobilfunk-Radarbild die Gewitterfront heranrasen, obwohl der Himmel noch so blau strahlt, als ob er sich wegen des bisherigen Sommers entschuldigen wollte. Wir trödeln also nicht, essen fleißig die Vorräte nicht ganz auf und machen uns auf den Rückweg. Ab dem Ellbogensee frischt der Wind etwas auf und wir sehen langsam aber sicher die schwarze Wand auf uns zurollen. Jetzt drängt die Fahrtenleitung auf zügige Rückkehr, doch über den Begriff „zügig“ gibt es offensichtlich unterschiedliche Ansichten. Wir erreichen den Steg mit Müh’ und Not bevor das Unwetter losgeht, haben also wieder einmal die optimale Wanderruderstrecke zurückgelegt. Diese wird dadurch definiert, dass man das Boot verlassen hat, bevor die Oberfläche des Sees vom ersten Blitz unter Hochspannung gesetzt wird. Nach kurzem aber intensivem Guss löst sich alles in Wohlgefallen auf, die Hauptgewitterfront ist vor dem Wangnitzsee links abgebogen, bevor sie zur Müritz weitergezogen ist. Da es ja erst früher Nachmittag ist, haben die Ruderkameraden Vera, Thomas, Frank, Ingo und Bernd ein schlechtes Gewissen, weil sie nur 28 km gerudert sind und raffen sich zu einer 10-km-Powerfahrt zum Drewensee auf. Später fährt Ingo noch ein drittes Mal mit Dagmar im Zweier. Wir wissen nicht, mit wem Ingo die drei nächtlichen Trainingseinheiten gerudert ist …
Zum Abendessen ließen zwei stolze Puter ihr Leben, die perfekt gegrillt worden waren. Bis auf drei Verweigerer erfreuen sich die Ruderkameraden an ein oder zwei Portionen, die Vortags-Scholle-Esser vertra- gen noch einen weiteren Nachschlag, ohne Pommes nachbestellen zu müssen.
Beim anschließenden Olympia-Fernsehen werden wir Zeuge unvermuteter Talente von Thomas: Zuerst ist er als einziger in der Lage mit drei schnellen Fernbedienungsklicken das Format des Fernseh-Apparates von verzerrt auf normal umzustellen und danach hindert er unsere Vermieterin daran, eine nicht mehr zu öffnende Tür unter Anwendung schwereren Werkzeugs aufzubrechen, indem er sein goldenes Schlüsseldiensthändchen benutzt. Glück gehabt, was man von den deutschen Schwimmern nicht behaupten kann, aber immerhin ist niemand ertrunken. Nicht allzu spät begibt sich die Rudergemeinschaft zur Nachtruhe.
Sonntag, 29.7.
Nichts wird es mit einem schönen Abschlussrudern am Sonntagvormittag, denn es regnet mit gleichbleibender Intensität, sodass es Ruderfreunde gibt, deren Identität hier nicht enthüllt wird, die 80 Meter vom Schlafhaus zum Frühstücksbuffet mit dem Auto zurücklegen, weil nicht klar ist, ob sie nicht vielleicht doch aus Zucker bestehen.
Das Abriggern wird in der Bootshalle durchgeführt, das Aufladen der Boote auf den Anhänger leider nicht, so dass alle schön nass werden, aber schließlich üben wir ja einen Wassersport aus. Als wir das Gelände verlassen, beendet der Regen seine für die Natur höchst erfreuliche Tätigkeit, leider ist es jetzt zu spät, um an Rudern auch nur zu denken. Die Rückfahrt nach Berlin (lange Abkürzung durch den Wald, schöne tiefe Pfützen, null Tiere) verläuft ausnahmsweise nach Plan, ebenso wie das Aufriggern auf dem Arkona-Gelände. Alle Boote sind in der Heimat angekommen, das war’s wohl dieses Jahr mit dem Wangnitzsee.
Das amtlich bestätigte Ergebnis der Fahrt lautet:
„Egal ob trocken oder nass – am Wangnitzsee macht Rudern Spass!“
Klaus Becker